Die Veränderungsprozesse im Handel sind massiv und betreffen nahezu alle Branchen. Wer den Kundenbedürfnissen gerecht werden und eigene Stärken ausspielen möchte, der müsse seine Position kennen und offen für neue Perspektiven sein, sagt Silvio Zeizinger. Der Geschäftsführer des Handelsverbands Hessen betont: Der Handel ist nicht mehr der Frequenzbringer Nr. 1 in der Innenstadt. Umso mehr müssen die lokalen Akteure mit Authentizität, Service und Einzigartigkeit punkten. Auch die Politik müsse klug und weitsichtig agieren, um die Innenstadt zu stärken und wieder attraktiver zu machen. Ein offenes Visier ist dabei eine der Grundvoraussetzungen. Zeizinger ist überzeugt: Die Bensheimer Service-Offensive kann dazu beitragen, gemeinsam in eine neue Richtung zu denken.Herr Zeizinger, in Bensheim ist ein Gemeinschaftsprojekt der Gewerbetreibenden mit dem Stadtmarketing angelaufen, um die Innenstadt zu stärken. Wie ist die Ausgangsposition?Silvio Zeizinger: Bensheim hat Charme. Die bauliche Grundlage ist wertvoll, die Architektur im Stadtkern ästhetisch ansprechend. Aber nicht nur rein äußerlich hat die Stadt viel zu bieten. Auch die gewerbliche Infrastruktur ist solide: Es gibt inhabergeführte Geschäfte, eine schöne Fußgängerzone und einen belebten und gut durchmischten Innenstadtkern. Eine gute Grundlage. Trotzdem gilt es, die vorhandenen Strukturen weiterzuentwickeln. Einen Diamanten kann man schleifen oder roh lassen. Die Herausforderung besteht darin, dies in die Köpfe der Verantwortlichen zu bringen.Welche Rolle spielt die Kommunalpolitik in diesem nicht ganz einfachen Prozess?Die politischen Akteure sollten sich mit dem Standort identifizieren. Es geht darum, dass sie die lokale Entwicklungsdynamik fördern und unterstützen anstatt zu blockieren. Das ist in fast allen Städten immer wieder ein Thema. Und es braucht attraktive Bürgerbeteiligungsprozesse. Ohne die geht es heute nicht mehr. Aber man muss diesen Dialog in die Bevölkerung so gestalten, dass er bei den Adressaten auch ankommt und die Menschen zum Mitmachen motiviert.Woran denken Sie dabei?Man braucht eine andere Form der Ansprache und modernere Art der Beteiligung. Das Thema Digitalisierung spielt dabei eine große Rolle. Wer sich ernsthaft beteiligen will, der setzt sich nicht freitagabends oder sonntagmorgens in ein Bürgerhaus. Zeitökonomie spielt bei den Menschen heute eine weitaus größere Rolle als früher, Prioritäten werden völlig anders gesetzt. Das bedeutet aber nicht, dass man sich nicht aktiv in lokale Entwicklungsprozesse einbringen möchte – aber man möchte es anders tun. Digitale Bürgerbeteiligungsmodelle bieten mehr Freiräume. Man kann diese Online-Formate auch unmoderiert gestalten, das ist dann manchmal ein bisschen chaotisch, aber meist hoch dynamisch und inhaltlich spannend. Denn es braucht offene Kommunikationsräume ohne Barrieren und Vorgaben, in denen zunächst alles erlaubt ist und die dem Bürger Platz für eigene Denkmodelle bieten. Als Stadt sollte man sich trauen, über den Tellerrand zu schauen und diese neuen Formate zu wagen. In einer solchen Umgebung gedeiht ein kreativer Input, auf dessen Basis man weiter diskutieren kann.

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„Bensheim hat Charme“, meint Silvio Zeizinger: „Die bauliche Grundlage ist wertvoll, die Architektur im Stadtkern ästhetisch ansprechend. Aber nicht nur äußerlich hat die Stadt viel zu bieten.“ 
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„Die Herausforderung besteht darin, die Erlebnisfunktion für den Kunden in den Vordergrund zu stellen“, ist Silvio Zeizinger überzeugt. BILD: CONTRASTWERKSTATT – STOCK.ADOBE.COM

Ist es denn heute eine andere Art Mensch, die sich einbringen möchte, als vor 20 oder 30 Jahren?

Absolut. Wir erleben heute flächendeckend ganz andere Akteure, die sich einbringen und Dinge aktiv voranbringen möchten. Bei der hessischen Innenstadtoffensive „Ab in die Mitte!“ und beim Förderprogramm „Zukunft Innenstadt“ hat man diese Akteure miterleben können. Das hat Spaß gemacht. Ihnen sollte man die Hände reichen. Die Politik darf da nicht im Wege stehen, sondern muss Türen öffnen. Das war in Bensheim in der Vergangenheit offenbar nicht immer ganz einfach.

Welchen Tipp haben Sie?

Es geht zunächst darum, dass jeder im Prozess Beteiligte seine Rolle kennen muss. Denn was man in diesem Kontext unbedingt betonen muss: der Handel braucht die Stadt nicht unbedingt, er hat auch andere Vertriebskanäle. Die Stadt wiederum braucht den Handel enorm als einen wesentlichen Akteur auf der Innenstadtbühne. Auch wenn er im modernen Zentrum nicht mehr die Hauptrolle spielt, wie dies früher einmal der Fall war, so profitieren unsere Innenstädte und Stadtquartiere doch nach wie vor von der Präsenz der örtlichen Geschäfte. Wertvoll ist auch das Zusammenspiel des Handels mit Gastronomie, Kultur, Freizeit- und Vereinsleben. Aus dieser kooperativen Situation heraus können neue Perspektiven entstehen, die man ohne Denkverbote diskutieren sollte. Wichtig ist, dass sich die Stadt selbst eine Funktion gibt, in der sie sich wiederfindet und aus der heraus sie solche Prozesse konstruktiv begleiten kann. Das Wichtigste dabei: Stadt und Handel haben eben eine andere Funktion als früher. Dieses Verständnis ist in der Kommunalpolitik, aber auch in der Landespolitik, noch nicht überall sehr ausgeprägt. Das ist schade, denn es gibt auch die Möglichkeit, sich dieses Wissen von außen in die Stadt zu holen, indem man Profis einbindet. Das können strategische Berater oder Dienstleister sein: sowohl aus dem Akteursnetzwerk vor Ort oder für den Blick über den Tellerrand auch Experten „von außerhalb“.

Ist der Bensheimer Ansatz aus Ihrer Sicht erfolgsversprechend?

Die Service-Offensive ist ein richtiger Weg. Man darf diese Bemühungen aber nicht nur auf den Handel reduzieren. Wenn man die Menschen fragt, was ihnen in einer Stadt positiv oder negativ auffällt, dann sind das meistens Faktoren wie Sicherheit und Sauberkeit. Das sind die Basics, die jeder liefern muss. Und dazu gehört nun mal auch Freundlichkeit. Das Bild von der viel zitierten „Service-Wüste Deutschland“ stimmt heute sicher nicht mehr, aber beim Handel haben sich die Erwartungen auf der Kundenseite in den vergangenen Jahren deutlich verändert. Der Käufer legt viel Wert auf Bequemlichkeit. Und die findet er im Netz. Er kann online (fast) alles und schnell kaufen, aber vor allem hat der Kunde völlige Transparenz über Verfügbarkeiten, Produktbewertungen, Services und am Ende auch den Preis. Es muss im stationären Handel nicht vorrangig um niedrige Preise gehen, entscheidend ist zu wissen, wie der Kunde tickt, wo er sich informiert und wie er seine Kaufentscheidungen trifft und dann am Ende dem Kunden den Mehrwert zu bieten, den er online nicht hat. Wenn man das verstanden hat, ist man schon einen wichtigen Schritt weiter.

Was bedeutet das konkret für die Inhaber?

Jedes Unternehmen muss sich den permanenten Innovations- und Veränderungsprozessen bewusst werden und entsprechend handeln. Deren Geschwindigkeit hat sich aber enorm erhöht. Ich kann heute nicht mehr zehn Jahre mit dem gleichen Konzept, derselben Ladenoptik und einem statischen Sortiment erfolgreich sein. Im Grunde muss man sich täglich neu erfinden. Das betrifft alle – auch die Gastronomie, die Dienstleister, die Kultur. Wichtig ist: Veränderung braucht Mut, neue Wege zu gehen.
 

„Bensheim hat den Zuschlag für das Förderprogramm bekommen, das durch ehrenamtliches Engagement erfolgreich beantragt wurde. Das ist ein tolle Chance und sollte bitte nicht durch parteipolitisches Klein-Klein ausgehebelt werden.“



Was macht den klugen Händler demnach aus?


Wenn er sich nicht damit zufriedengibt, nur die Summe aus Ein- und Verkauf zu sein, sondern immer wieder neue Emotionen, andere Botschaften und Produkte anbietet. Die Herausforderung besteht darin, die Erlebnisfunktion für den Kunden in den Vordergrund zu stellen und damit dem eigentlichen Versorgungsbedarf gerecht zu werden. Auch die Digitalisierung spielt dabei eine große Rolle – und zwar gar nicht so sehr in Bezug auf den Kaufabschluss, sondern eher im Bereich der Verkaufsanbahnung. Man muss online gefunden werden, es geht um Sichtbarkeit, Verfügbarkeit und Transparenz. Der Business-Eintrag bei Google Maps gehört zum kleinen Einmaleins, das muss jeder können.

Aber die Sensibilisierung für diese Themen liegen doch eher im Zuständigkeitsbereich ihres Verbands als in der kommunalen Politik, oder?

Wir sensibilisieren, informieren und begleiten den Handel mit unserer Kampagne handel.digital täglich bei diesen Transformationsprozesse. Die Landespolitik hat hierfür schon vor einigen Jahren die Weichen gestellt und entsprechende Förderprogramme aufgesetzt. Der Handel muss diese Hilfestellung nur nutzen! Das ist auf der städtischen Seite genauso. Bensheim hat den Zuschlag für das Förderprogramm Zukunft Innenstadt bekommen, das durch ehrenamtliches Engagement erfolgreich beantragt wurde. Jetzt können Gelder zur nachhaltigen Stärkung des Standorts abgerufen werden. Das ist eine tolle Chance und sollte bitte nicht durch parteipolitisches KleinKlein ausgehebelt werden. Wer neue Ideen entwickelt und dabei ständig ausgebremst wird, der hat irgendwann keine Lust mehr. Die Service-Offensive muss jetzt gelebt werden, aber das kann nicht am Stadtmarketing allein hängen bleiben. Da muss die Politik an der Basis genauso mitmachen, und zwar mit der Botschaft: jeder soll sich beteiligen, weil jeder ein Teil von Bensheim ist.

Das ist auch eine Frage des Vertrauens.

Absolut. Die parlamentarische Politik muss erstens ein Verständnis für die Sache entwickeln und zweitens die Profis auch mal machen lassen. Das ist ein enorm wichtiges Signal für jene, die an der Front agieren und am Ende den Kopf hinhalten müssen. Sonst kommt man nicht voran. Das gilt nicht nur für Bensheim, sondern für jede Stadt.

Wenn Sie in zehn Jahren wieder durch die Bensheimer Innenstadt spazieren: Welchen Geist würden Sie gern spüren?

Ich hoffe, dass nicht so lange dauern wird. Im Ernst: Es wäre schön, wenn auch der Besucher, der nicht so häufig in der Stadt ist, eine positive innere Dynamik erkennen wird und eine Akteurs-Gemeinschaft wahrnimmt, die immer wieder Neues bewegt. Und dass der Slogan „mitten im hier“ aktiv und von allen gelebt wird. Die Kampagne „Bensheim sucht seine freundlichsten Gesichter“ ist eine schöne Initiative, um diesen Geist im Kleinen zu spiegeln. Sie macht Bensheim nach innen wie nach außen ein gutes Stück bekannter. Und persönlicher. Thomas Tritsch
 

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IMPRESSIONEN VON DER AUFTAKTVERANSTALTUNG ZUR SERVICE-OFFENSIVE IM BÜRGERHAUS